Sonntag, 3. Februar 2013

Strukturirrsinn - eine Antwort

TT.MM.JJJJ
Foto: André Benedix
Creative Commons NC ND



Ein (polemisches!) Vorwort

Ich muß doch mal ein paar Worte zum Thema »Strukturirrsinn« loswerden.

Warum? Letzte Woche postete der amtierende Landesvorsitzende Florian A. Unterburger in seinem Blog einen Beitrag »Der Sächsische Strukturalismus«. Ich weiß nicht, was ihn bewegt hat, diesen Artikel zu verfassen, der Wille zum Anheizen einer programmatischen oder politischen Debatte war es ja wohl nicht.

Unabhängig vom zugrundeliegenden Motiv strotzt der Artikel nur so von falschen Aussagen und Schlussfolgerungen und wenn der Unsinn im Netz so unkommentiert existiert, glaubt das am Ende noch jemand.

Ende der Polemik.

Da ich 2 Jahre selber im Landesvorstand war und vorher schon 1½ Jahre Erfahrung im Bundesschiedsgericht gesammelt habe, traue ich mir zu, die Probleme des "Sächsischen Strukturalismus" zu beurteilen.

Beispiel Zwickau


Im Blog schreibt Florian: "…besagte Landkreis ist auch der Auslöser für ebenjenen Blogartikel, den ihr gerade lest. Zwickau hatte bereits einen Kreisverband, welcher aufgrund von Handlungsunfähigkeit vom Landesparteitag aufgelöst werden musste, und ist deshalb ein gebranntes Kind. Nichtsdestotrotz gibt es Piraten in Zwickau, die einen neuen Anlauf starten wollen – gleichfalls gibt es dort solche, die verständlicherweise das Feuer scheuen. Wie ihr unschwer erahnen könnt, bin ich Unterstützer der ersteren."

Was in Zwickau passierte waren zwei Dinge.
Erstens, der KV Zwickau hatte sich gegründet, ohne genügend hohe Anzahl von Aktiven vor der Gründung zu haben. Gleiches ist vielfach die Ursache für Probleme in anderen Gliederungen, dazu später mehr.

Zweitens hatte der KV Zwickau sich in seine Satzung ein Quorum hineingeschrieben, welches sich auf die Anzahl der Mitglieder der Gliederung bezog. Im Klartext, eine Kreisversammlung konnte nach Kreissatzung nur dann durchgeführt werden, wenn eine festdefinierte Anzahl von Mitgliedern auftauchen.

Ob so ein Quorum notwendig ist oder nicht, wenn überhaupt, so sollte man das Quorum nur für die erste Einberufung vorsehen. In Zwickau hatte der Vorstand durch monatelange Untätigkeit geglänzt, der KV Zwickau wurde dann durch den Landesvorstand aufgerufen, einen Kreisparteitag durchzuführen. Da sich der Kreisverband durch Satzung und Untätigkeit selbst blockiert hat, aber auch Gelder blockiert waren, die an anderer Stelle fehlten, beschloß der Landesvorstand den einzig noch verbliebenen Weg über das Mittel der Gebietsauflösung zu gehen. Unter http://wiki.piratenpartei.de/SN:Dokumente/Vorstandsbeschl%C3%BCsse/2011_05_23#LV-SN_2011_05_23_03 gibt es die ausführliche Begründung und Historie.

Kurzum, was wir aus Zwickau gelernt haben sollten:
  1. Keine Quoren in Satzungen schreiben
  2. Keine Gliederungen gründen, wenn zu wenig Aktive vor Ort
 

Verantwortung schafft Aktivität


Unter diesem Titel schreibt Florian A. Unterburger:
Entgegen vieler Erzählungen aus Nachbarbundesländern, die Verbandsgründungen pauschal als Postengeschacher für Titelgeile abqualifizierten, habe ich hier grundlegend andere Erfahrungen gemacht. In Dresden wie auch Sachsen hat sich mehrmals gezeigt, dass der Vertrauensvorschuss, in ein Amt gewählt zu werden, zu deutlich mehr Aktivität geführt hat. Die Verpflichtung gegenüber “den Wählern”, die übernommene Verantwortung führte vielfach – auch bei Neupiraten, die relativ schnell zum Beisitzer gewählt wurden – zur Selbstverpflichtung, etwas zurückgeben zu müssen.

Dazu ein paar Anmerkungen. Wenn man die Mitglieder fragt, warum Sie in den Vorstand wollen, kommt oft die Aussage, "weil ich da etwas bewirken kann". Mich schüttelt es regelmäßig, wenn ich so etwas höre. Denn wir sind eine Partei, in der jedes Mitglied, wenn es will, sich nahezu überall einbringen kann. Und wenn man dann nachhakt, welche Dinge, es denn im Vorstand glauben machen zu können, welche es als Teil der Basis nicht machen kann, leuchten oft gähnende Fragezeichen über den Vorstandskandidat auf.

Im Beitrag schreibt Florian sinngemäß, daß es ja einen Vertraunsvorschuß für die gewählten gebe und die gewählten Vorstände dadurch sich verpflichtet fühlen etwas zu tun.

Ganz ehrlich, bei solchen Aussagen bekomme ich das große Kotzen. Erstens, müssen wir doch nicht ernstlich externe Anreize schaffen, damit Leute etwas tun! Wir sind doch alle deswegen Piraten geworden, weil wir etwas tun wollen(!), damit sich in diesem Lande etwas ändert! Ich habe mich damals nicht für Landesvorstand beworben, weil ich ich mir da einen regelmäßigen Tritt in den Allerwertesten abholen wollte. Ich habe den Job gemacht, weil es andere vor mir so grottig gemacht haben, daß ich mich aus Notwehr da hin gestellt habe. Und aus Notwehr mache ich auch Politik bei den Piraten. Jeder, der ein Jahr im Vorstand auf Landes- oder Bundesebene hinter sich hat, weiß(!), daß man alles bekommt, nur keine Motivation sich der Basis verpflichtet zu fühlen. Denn als Vorstand ist man der permanenten Kritik der Basis ausgesetzt. Da muß man mit intrinsischer Motivation ins Amt hineingehen, damit man die volle Amtszeit nach besten Wissen und Gewissen ausgestalten kann.

Zweitens, die Einwände der anderen Landesverbände, daß oftmals ein Postengeschachere einsetzt, ist nicht einfach wegzuwischen. Gerade im Vorfeld der Aufstellungsversammlungen gab es bundesweite Fälle, in denen Familien- und Freundesclans versuchten eine Gliederung zu gründen, um ihre Chancen für ein Bundestagsmandat zu steigern. Solche Hinweise, ein wachsames Auge auf neuzugründende Untergliederungen zu haben, sollte man nicht als "unqualifiziert" abtun, sondern ernstnehmen.

Zurück zur Überschrift "Verantwortung schafft Aktivität". Diese Überschrift ist nicht ganz falsch. Verantwortung kann jeder einzelne durch Aktivität übernehmen. Und dieses Zeigen von Verantwortung motiviert andere, aktiv zu werden.

Kurzum:


  1. Durch verdientes Vertrauen Belohnte Aktivität schafft Verantwortung.
  2. Jeder kann bei uns aktiv werden, da helfen keine Vorstandsposten

Dezentralität schafft Identifikation

Grundsätzlich stimme ich hiermit überein. Dinge können und sollten besser vor Ort behandelt werden. Doch bedarf es dafür Untergliederungen? Nein. Es bedarf eines Ansprechpartners vor Ort, der Wegweiser spielt. Und nach und nach werden sich vor Ort gewachsene, dynamische Strukturen herausbilden, nicht par ordre de mufti, sondern nach und nach.

Und wenn es vor Ort keine Piraten gibt, die kommunales bearbeiten wollen, dann ist das so. Davon geht weder die Welt unter, noch müsste man da irgendwie eingreifen. Im Gegenteil, solche Aktivitätskerne muß man unabhängig, ob Kommunalthema oder Bundesthema, fördern, unbürokratisch,  motivierend, anerkennend. Wenn das passiert, dann entwickelt sich daraus Schritt für Schritt ein stabiler Nukleus, aus dem immer wieder neue Piraten und neue Ideen geboren werden.

Unter dieser Überschrift behauptet Florian: "Diffuse und unklare Zuständigkeiten sind in Gebieten geringer Urbanität organisationstheoretisch riskant – sprich: das Risiko ist höher, dass sich lose, informelle Crews oder Stammtische in der Fläche verlieren."

Der Punkt ist, wenn es "Diffuse und unklare Zuständigkeiten" gibt, spielt der Ort keine Rolle, das Risiko zum Scheitern ist überall gegeben. Und, Zuständigkeiten zu definieren heißt nicht zwangsweise Untergliederungen gründen zu müssen. In der Vergangenheit hatte der Landesvorstand in solchen Gebieten zB. einen Ansprechpartner benannt, der die Organisatioin und Bewerbung der Stammtische übernimmt.

Kurzum:
  1. Kleine, agile, selbstorganisierte Gruppen schlagen Strukturalismen und sind stabiler
  2. Kommunikation ist und bleibt das A und O.

Unabhängigkeit schafft Effizienz


Mag sein, aber auf kleine Gliederungen trifft das definitiv nicht zu. In jeder Gliederungsebene binden wir ca. 5 aktive Piraten an Formalfoo, sprich: alleine in Sachsen sind 50 Mitglieder in Strukturen gebunden. Eine programmatische Arbeit ist für diese während der Amtszeit kaum möglich. In seinem Blog schreibt Florian, daß ja Kompetenzen aufgebaut werden. Ja, werden sie. Der Punkt ist der, daß die Erfahrungen auf KV Ebene nicht in dem Maße bei Herausforderungen auf Landesebene, und Erfahrungen dort nicht auf Bundesebene helfen.

Wenn, dann sollten wir auf zwei Dinge achten.
Zum einen regelmäßige Abstimmungen zwischen Kreisvorstands- und Landesvorstandsebene (oder Land/Bund wie auf Marina), damit jeder die Probleme des anderen versteht.

Zum anderen brauchen wir einen Workflow, der verhindert, daß jeder neue Vorstand von vorne beginnt, seine Erfahurngen zu machen. Eine Idee war die des rollenden Vorstandes, daß man Teile des Vorstandes in einem Jahr neu wählt, den anderen Teil im folgenden.

Wir brauchen eine Möglichkeit, damit wir das Rad nicht jedesmal neu erfinden. Da hilft keine Hierarchie!

Kurzum:

  1. Jede Untergliederung bindet wertvolle Ressourcen, die zB. für Programmarbeit fehlen!
  2. Wir müssen aus Fehlen lernen!


Eine kleine Katastrophenliste


Um Florians Euphorie ob der Gründung von Untergliederungen mal die Realität entgegenzustellen (nur Jahr 2012!):

  • KV  Vogtland gegründet, bis heute konfliktstark, wenig inhaltliche Vorort-Arbeit, kommissarischer Vorstand
  • KV Mittelsachsen mit 6 Leuten gegründet, 5 davon im Vorstand (stabilisiert durch Förderung LVor mit Tag der Sachsen)
  • KV SOE kurz vor Herztod durch zu wenige Mitglieder, mehrmalige Ermahnung durch Landesvorstand
  • KV Chemnitz handlungsunfähig, kommissarischer Vorstand
  • KV Bautzen kurz vor Herztod durch zu wenige Mitglieder
  • KV Leipzig 2mal handlungsunfähig
  • KV Erzgebirge, kurzzeitig handlungsunfähig durch Wegfall Schatzmeister
  • (KV Dresden kurzzeitig handlungsunfähig, weil Wechsel Vorstand auf Landesebene)
Wir haben also in 5 (von 10!) KVs einen kommissarischen Vorstand gebraucht mit anschliessender Wahl, SOE, Bautzen, (Zwickau) und Vogtland sind zur Zeit eher im Zombiemodus.

Wenn wir KV Gründungen mit je 15 Gründungswilligen gehabt hätten, würden gerade die letztgenannten heute in einem deutlich gesünderen Zustand sein.

Und jetzt mal was Grundsätzliches!


Was mich an Piraten bisher immer fasziniert hat, und ich bin dankbar, daß wir das bisher so gut hinbekommen haben, ist, daß wir schnell und agil miteinander kommunizieren können, daß wir mit Respektlosigkeit Autoritäten entgegentreten. Das von Florian skizzierte Bild das wir nur Struktur brauchen, damit wir effizient sind, ist Politik 1.0-Denke.

Hierarchien, oder auch die Untergliederung der Unterglieder der Gliederung sorgen nach und nach dafür, daß wir die Durchlässigkeit verlieren, daß sich interne Abhängigkeiten und Gefälligkeitsstrukturen bilden. 

Wenn ich mir vorstelle. wir hätten die og. 50 in Strukturen gefangenen Piraten für inhaltliche, programmatische Arbeit zur Verfügung gehabt, was hätten wir bereits reißen können?! Wenn wir die Zeit rechnen, die für die ganzen Kreisversammlungen draufgegegangen sind, für Satzungsfoo, für Wahlen, für Papierkram, für Finanzrechnungen…

Früher, in einer Zeit ohne Internet, waren baumartig organisierte Parteien notwendig. In unsere Zeit auch noch? Ich glaube kaum.

Und deswegen halte ich solcherart Forderungen nach Struktur für Irrsinn.


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