Sonntag, 4. Dezember 2016

Schaden durch eine kaputte Digitalcharta

Vor wenigen Tagen wurde von einer "Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern, denen die Gestaltung der digitalen Welt am Herzen liegt" eine "Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union" vorgelegt.

Auf den ersten Blick


Auf den ersten Blick ist man als Mensch, der an Netzpolitik interessiert ist, und die letzten Jahre gesellschaftliche Entwicklungen unter dem Aspekt der digitalen Revolution bewertet, geneigt, diesem Entwurf zuzustimmen.

Doch leider krankt die Charta an elitärer Überheblichkeit und sorgt durch ihre betonte Gegenüberstellung des Digitalen gegen die "reale" Welt für die Zementierung von Neuland-Dystopien in den Köpfen überforderter Angst-Politiker.

Zur Charta gibt es schon sehr gute Analysen, ua. von Julia Reda über die Rückschritte in den Fragen des Immaterialgüterrechtes, von Jürgen Geuter (aka @tante) der vor allem Artikel 5 kritisiert, und von Nutella, der die juristischen Fragen beleuchtet.

Aus meiner Sicht ist die Digitalisierung unserer Welt im vollen Gange und unumkehrbar. Unsere Arbeitswelt verändert sich, unsere Art der Kommunikation und unsere Erfahrungs- und Wissenswelt. Viele dieser Veränderungen legen ein hohes Tempo an den Tag, und diese Veränderungen machen etlichen Menschen Angst.

Für mich ist "digitale Welt" und "reale Welt" kein Gegensatz


Aus diesem Grunde kann ich der Präambel der og. Charta im Grunde zustimmen. Dem entgegen stehen zwei Punkte:

Grundrechte und demokratische Prinzipien auch in der digitalen Welt durch die Herrschaft des Rechts zu schützen,
Für mich ist "digitale Welt" und "reale Welt" kein Gegensatz, die Nutzung von Computern (gleich welcher Form) ist Realität. Meine Kommunikation erfolgt gleichberechtigt via Internet oder von Angesicht zu Angesicht. "Digitale Welt" ist ein anderer Ausdruck von "Neuland", so als wäre das etwas vom Alltag, von der Lebenswirklichkeit abtrennbares. Wie eine Insel auf die man reisen kann und für die man neue Regeln definieren müsste.

staatliche Stellen und private Akteure auf eine Geltung der Grundrechte in der digitalen Welt zu verpflichten,
Auch dieser Punkt wirkt, als würde man die Behauptungen ältlicher Sicherheitshysteriker ernstnehmen, die das Internet, oder verkürzt alles Digitale, als "rechtsfreien Raum"  bezeichnen.

Vielleicht sind diese Punkte missverständlich und könnten durch andere Formulierung entschärft werden. Schauen wir auf Artikel 1 "Würde":

(1)  Die Würde des Menschen ist auch im digitalen Zeitalter unantastbar. Sie muss Ziel und Zweck aller technischen Entwicklung sein und begrenzt deren Einsatz.
(2)  Neue Gefährdungen der Menschenwürde ergeben sich im digitalen Zeitalter insbesondere durch Big Data, künstliche Intelligenz, Vorhersage und Steuerung menschlichen Verhaltens, Massenüberwachung, Einsatz von Algorithmen, Robotik und Mensch-Maschine- Verschmelzung sowie Machtkonzentration bei privaten Unternehmen.
(3)  Die Rechte aus dieser Charta gelten gegenüber staatlichen Stellen und Privaten.

Technische Entwicklung ist Folge der Neugier des Menschen


Satz 2 aus Absatz 1 halte ich für Geschwurbel. Es ist doch nicht die technische Entwicklung, die die Würde der Menschen antasten würde, sondern immer Menschen, die die Würde anderer Menschen verletzen. Technische Entwicklung ist Folge der Neugier des Menschen. Und erst mit der Entwicklung von neuer Technik kann sich auch ein moralischer Maßstab entwickeln, der den Einsatz dieser Technik zum Wohle des Menschen regelt.

Absatz 2 gehört meines Erachtens nicht in eine Charta. Eine Charta sollte auf lange Zeit allgemeingültig sein. Daher sind Auflistungen von Beispielen nicht sinnvoll. Davon ab, warum Big Data, künstliche Intelligenz, …, Algorithmen und Robotik per se zu verteufeln sind, erschliesst sich mir nicht.

Über Absatz 3 wurde an anderer Stelle schon viel gesagt. Kurz zusammengefasst, ist es hoch problematisch Abwehrrechte nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber "Privaten" zu definieren. Zumal "Private" nicht genauer eingegrenzt ist.

Meinungsfreiheit als Grundrecht gilt nicht nur in der digitalen Kommunikation, sondern generell


Über den Artikel 5 "Meinungsfreiheit und Öffentlichkeit" wurde schon genug berichtet:

(1) Jeder hat das Recht, in der digitalen Welt seine Meinung frei zu äußern. Eine Zensur findet nicht statt.
(2) Digitale Hetze, Mobbing sowie Aktivitäten, die geeignet sind, den Ruf oder die Unversehrtheit einer Person ernsthaft zu gefährden, sind zu verhindern.
(3) Ein pluraler öffentlicher Diskursraum ist sicherzustellen.
(4) Staatliche Stellen und die Betreiber von Informations- und Kommunikationsdiensten sind verpflichtet, für die Einhaltung von Abs. 1, 2 und 3 zu sorgen.

Der komplette Artikel ist in sich widersprüchlich. Die Begriffe "Digitale Hetze", "Mobbing" sind nicht definiert. In Absatz 1 wird Zensur eine Absage erteilt, in Absatz 4 werden staatliche Stellen und die Privatwirtschaft in die Pflicht genommen, genau dieser Zensur Vorschub zu leisten. Was ein "pluraler öffentlicher Diskursraum" sein soll, bleibt unverständlich. Alles in allem gehört dieser Artikel komplett gestrichen. Meinungsfreiheit als Grundrecht gilt nicht nur in der digitalen Kommunikation, sondern generell.

Wo die Grenzen von Profiling zu ziehen sind


Im Artikel 6 "Profiling":

Profiling durch staatliche Stellen oder Private ist nur auf gesetzlicher Grundlage zulässig.

könnten Sicherheitspolitiker die Aufforderung verstehen, Private in die Pflicht zu nehmen. Wo die Grenzen von Profiling zu ziehen sind, definiert die Charta leider gar nicht. Dabei wäre dies in Zeiten zunehmender Überwachung und proaktiven Profilings (zB. Precrime) notwendig.

Automatisierung ist erst einmal nichts Verdammenswertes


Der Artikel 7 "Algorithmen" ist hanebüchen. Zuerst einmal ein paar Wote zum Algorithmenbegriff. Dieser bezeichnet nichts anderes als eine Vorschrift zur Problemlösung, quasi als generalisiertes Rezept zur Vermeidung von Rechenaufwand für eine bestimmte Gruppe von gleichartig gelagerten Problemen.

(1) Jeder hat das Recht, nicht Objekt von automatisierten Entscheidungen von erheblicher Bedeutung für die Lebensführung zu sein. Sofern automatisierte Verfahren zu Beeinträchtigungen führen, besteht Anspruch auf Offenlegung, Überprüfung und Entscheidung durch einen Menschen. Die Kriterien automatisierter Entscheidungen sind offenzulegen.
(2) Insbesondere bei der Verarbeitung von Massen-Daten sind Anonymisierung und Transparenz sicherzustellen.

Automatisierung ist erst einmal nichts Verdammenswertes. Automatisierung  sorgt für eine Entlastung der stupiden Wiederholung von gleichartigen Tätigkeiten. Nehmen wir als Beispiel die Personenbeförderung. Nach obiger Definition wären fahrerlose Systeme, wie selbstfahrende Autos, Autopiloten in Flugzeugen nicht möglich. Auch die Forderung nach Offenlegung der kriterien automatisierter Entscheidungen ist an der Lebenswirklichkeit vorbei. Neuronale Netze können zB. Autos steuern, *wie* diese aber zu den jeweiligen Entscheidungen kommen ist schlicht nicht rückübersetzbar. Wenn man den Artikel in der Intention in eine Charta übernehmen will, dann sollte man Fragen der Haftung, Etablierung von Sicherungssystemen, Mindestsstandards nach anerkanntem Stand der Technik aufnehmen. Der nachfolgende Artikel 8 zu "Künstliche Intelligenz" ist da schon besser formuliert.

Transparenzgebot ist Abwehrrecht des Bürgers


In Artikel 9 "Transparenz" steht:

(1) Die Informationen staatlicher Stellen müssen öffentlich zugänglich sein.
(2) Das Transparenzgebot gilt auch gegenüber Privaten, sofern diese über Informationen verfügen, die für die Freiheitsverwirklichung Betroffener von entscheidender Bedeutung sind.

Auch hier ist Absatz 2 mit der fehlenden Abgrenzung von "Privaten" hoch problematisch. Das Transparenzgebot staatlicher Stellen als Forderung gegenüber dem Staat ist ebenfalls ein Abwehrrecht des Bürgers. Es sichert, dass der Staat gegenüber seinen Bürgern sein Handeln erklärt Die Ausweitung auf wie auch immer geartete "Private" ist aus dieser Sicht mE. nicht herleitbar.

Höchstmöglicher Schutz ist schlicht nicht in Breite finanzierbar

In Artikel 13 "Datensicherheit" würde ich den schwammigen und überzogenen Begriff von "höchstmöglicher Schutz" durch "Sicherheit nach dem jeweiligen anerkannten Stand der Technik" ersetzen, höchstmöglich ist schlicht nicht in der Breite finanzierbar:

(1) Jeder hat ein Recht auf Sicherheit von informationstechnischen Systemen und der durch sie verarbeiteten Daten. Dabei ist höchstmöglicher Schutz zu gewährleisten.
(2) Identitätsdiebstahl und Identitätsfälschung sind zu bekämpfen.

Wie wird der Zugang finanziert?

  15 "Freier Zugang" ist schwierig:

(1) Jeder Mensch hat das Recht auf freien, gleichen und anonymen Zugang zu Kommunikationsdiensten, ohne dafür auf grundlegende Rechte verzichten zu müssen. Das Internet ist Bestandteil der Grundversorgung.
(2) Jeder hat das Recht auf eine nicht-personalisierte Nutzung digitaler Angebote.

Den Satz 2 des Absatz 1 würde ich ungesehen unterschreiben. Der Rest ignoriert die Frage der Finanzierung. Heute werden Dienste im Grunde auf zwei Arten finanziert. Entweder muss ich als Nutzer einen gewissen finanziellen Beitrag für die Nutzung bezahlen, oder private Daten, die aus der Nutzung dieser Dienste anfallen werden zur Finanzierung genutzt (personalisierte Werbung, Verkauf von Kundendaten). Wie jemand Dienste nutzen und bezahlen will, sollte jedem freigestellt sein. Allerdings muss er diese Entscheidung bewusst und informiert treffen können.

Gesellschaft muss akzeptieren, dass sich Menschen weiterentwickeln


Artikel 18 "Recht auf Vergessenwerden" ist hanebüchener Blödsinn. Als populistische Forderung schnell hinausposaunt, ignoriert sie die sich daraus ergebenden Konsequenzen:

Jeder Mensch hat das Recht auf digitalen Neuanfang. Dieses Recht findet seine Grenzen in den berechtigten Informationsinteressen der Öffentlichkeit.

Was sind denn die "berechtigten Informationsinteressen der Öffentlichkeit"? Würde darunter eine wissenschaftliche Auswertung zu soziokulturellen Entwicklungen via Twitter darunter fallen? Oder "das Phänomen Pegida im Internet"? Würde der Erhalt von 4chan nicht wichtige Informationen zu einem Teil der  Kultur des 21. Jahrhunderts liefern?
 
Im Übrigen ist es ja nicht das Problem, dass sich Informationen zB. zu Jugendsünden des einen oder anderen im Internet finden, sondern der gesellschaftliche Umgang damit. Sprich: die Gesellschaft muss akzeptieren, dass sich Menschen weiterentwickeln, dass Informationen immer im Kontext betrachtet werden müssen und dass uns erst das kulturelle Gedächtnis zu dem gemacht hat, was wir jetzt sind: Menschen die auf einen riesigen überlieferten Erfahrungsschatz vergangener und bestehender Kulturen aufbauen können. Wer ein Recht auf Vergessen fordert ist sehr schnell bei Zensur, ob gewollt oder nicht.

Von der Erwartung "bezahlte Arbeit für alle" verabschieden!


Artikel 21 "Arbeit" scheint aus der Feder eines Alt-Sozialisten geflossen zu sein:

(1) Arbeit bleibt eine wichtige Grundlage des Lebensunterhalts und der Selbstverwirklichung.
(2) Im digitalen Zeitalter ist effektiver Arbeitsschutz zu gewährleisten.
(3) Der digitale Strukturwandel ist nach sozialen Grundsätzen zu gestalten.

Dieser Artikel, insbesondere der erste Absatz ist so falsch und so bar jeder Erkenntnis zu den Entwicklungen, die die Digitalisierung mit sich bringt, wie sonst kein anderer Artikel. Durch die Digitalisierung unserer Welt, durch die zunehmende Automatisierung, in der Entwicklung künstlicher Intelligenz, ist es unabwendbar, dass wir uns als Gesellschaft von der Erwartung "bezahlte Arbeit für alle" lösen müssen.Stattdessen müssen wir uns Modelle überlegen, wie wir zum einen den Lebensunterhalt der vielen Menschen sichern und zum anderen für eine Weiterentwicklung der Gesellschaft sorgen können. Eine viel diskutierte Variante wäre die Umstellung auf ein bedingungsloses Grundeinkommen. Dies könnte, richtig organisiert, das kreative Potential der Menschen zum Wohle aller freisetzen. Als Beispiel könnte man die OpenSource-Bewegung nennen, in der Menschen gemeinsam Software entwickeln, die für alle gleichermaßen verfügbar ist.

Ignoriert den Status Quo


Der Artikel 22 "Immaterialgüter" ist ein Rückschritt und ignoriert den Status quo. Für eine detaillierte Analyse sei auf Julia Redas Beitrag verwiesen.

Quintessenz


Die Charta hat einige gute Ansätze, und der wichtigste Punkt ist, die aktuelle Diskussion. Leider zementiert sie die Trennung zwischen der "realen" Welt auf der einen und "digitaler Welt" auf der anderen. Die nach Angaben der Initiatoren investierte Arbeit von 14 Monate Vorbereitung und Diskussion spiegelt sich im Ergebnis nicht wieder. Es bleibt der Eindruck eines unausgegorenen Experiments. Schade ist zudem, dass die Charta zwar als europäisches Projekt angedacht ist, aber Europa bisher in keinster Weise einbezogen hatte. Damit richtet sie letztlich mehr Schaden an, als man ihr an positiven Punkten wohlmeinend zugute halten könnte.